Blickt man in die Geschichte von Studierendenverbindungen, so lässt sich feststellen, dass ihre Bedeutung im Vergleich zu früher nur noch marginal ist. Trotz ihres sinkenden Einflusses auf die Gesellschaft gilt es jedoch auf weitere problematische Aspekte und Entwicklungen hinzuweisen.
Der Zahn der Zeit
Der antiquierte Habitus von Verbindungsstudenten wurde spätestens mit der 68er-Bewegung an den Rand gedrängt. Studierendenverbindungen erlitten damals durch ein neues liberaleres gesellschaftliches Klima einen massiven Bedeutungsverlust, immer weniger Studierende waren bereit, sich den konservativen und bisweilen autoritären Regeln einer Verbindung zu unterwerfen. Einfluss auf die Rekrutierung neuer Mitglieder hatte auch der Bologna-Prozess Ende der 1990er Jahre. Die transnationale Hochschulreform brachte steigende Prüfungs- und Arbeitsbelastung mit sich und erschwerte es Verbindungsmitgliedern, Studium und die anstehenden Aufgaben im Bund zu vereinbaren, denn die Mitgliedschaft in einer Verbindung ist zeitintensiv. Waren im Kaiserreich, der Blütezeit der Studierendenverbindungen, noch drei Viertel der Studenten korporiert, entschieden sich im Wintersemester 2008/09 weniger als ein Prozent aller Studierenden in Deutschland, in eine Verbindung einzutreten. Viele Bünde lösten sich auf, ein paar wenige öffneten und veränderten sich, um ihre Existenz zu sichern.
Politische Einflussnahme
Trotz der schwindenden Mitgliederzahlen und Einflussnahme bekleiden Korporierte bis heute wichtige Posten in Politik, Justiz, Wirtschaft, Sicherheitsbehörden und Kirche. Studierendenverbindungen gelten vielen als Kaderschmiede und Vetternwirtschaft und bleiben aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ein Problem.
Nach dem Verbot von Vereinen und damit auch von Studierendenverbindungen durch die Alliierten waren es die katholischen Verbindungen, die nach dem Krieg zuerst wieder zugelassen wurden. Ihre Mitglieder konnten sich in der Folge in wichtigen Funktionen etablieren und in Politik und anderen gesellschaftlichen Bereichen Schlüsselpositionen einnehmen. Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer war einer von ihnen. Der konservative CDU-Politiker, der das Kanzleramt von 1949 bis 1963 innehatte, war Mitglied mehrerer katholischer Verbindungen. Wie bereits im Artikel zur Form und Organisation von Verbindungen erläutert wurde, sind Korporationen als ein konservatives Milieu zu analysieren. In der heutigen Parteienlandschaft finden sich Alte Herren entsprechend vornehmlich in Parteien mit konservativer bis extrem rechter Ausrichtung.
Neue politische Heimat AfD
Früher engagierten sich völkische Verbindungsstudenten bei der NPD oder bei anderen extrem rechten Parteien. Mit der Alternative für Deutschland (AfD) und ihrer Jugendorganisation Junge Alternative (JA) haben extrem rechte Korporierte heute eine weitere Anlaufstelle im parteipolitischen Spektrum gefunden. Alte Herren und Aktive vernetzen sich über die Partei, um vermeintlich Volk und Vaterland zu retten, und nutzen sie, um teils lukrative Stellen als Mitarbeiter von Abgeordneten zu ergattern. Darunter sind nicht nur Burschenschafter, auch einzelne Mitglieder konfessioneller Verbindungen, Landsmannschaften und Corps finden in der Partei eine politische Heimat.
Mit Blick auf München und Bayern wären AfD-Abgeordnete wie Markus Buchheit (Corps Germania München), Daniel Halemba (Burschenschaft Franconia Erlangen), Andreas Kalbitz (Pennale Burschenschaft Saxonia-Czernowitz), Christoph Maier (Burschenschaft Sudetia), Ferdinand Mang (Burschenschaft Franco-Bavaria), Hansjörg Müller (Turnerschaft Germania Dresden), Benjamin Nolte (Burschenschaft Danubia), Markus Walbrunn (Burschenschaft Stauffia), Wolfgang Wiehle (RCDS), Andreas Winhart (Mitglied einer Verbindung im Kartellverband der katholischen deutschen Studentenvereine) oder auch Alexander Wolf (Burschenschaft Danubia) zu nennen. Sie alle sind oder waren in der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik aktiv, nahmen und nehmen weiterhin also als Korporierte in verschiedenen Parlamenten Einfluss.
Die Sympathien gehen derweil in beide Richtungen. So veröffentlichen AfD-Politiker*innen Beiträge in den „Burschenschaftlichen Blättern“, der Verbandzeitschrift der Deutschen Burschenschaft und in „Der Burschenschafter“, der Verbandszeitschrift der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft (ADB). Beim Festkommers der Burschentage der Deutschen Burschenschaft im Jahr 2022 hielt AfD-Funktionär Matthias Helferich die Festrede.
Kirche, Justiz und Wirtschaft
Korporierte nehmen auch in anderen Bereichen Einfluss auf Gesellschaft und Politik. Insbesondere die konfessionellen Verbindungen ebnen ihren Mitgliedern den Weg in kirchliche Ämter. Bekannte katholische Korporierte sind der 2022 verstorbene Papst Benedikt XVI. (K.St.V. Lichtenstein-Hohenheim zu Freising-Weihenstephan) und der amtierende Kardinal Reinhard Marx (Verband der Wissenschaftlichen Katholischen Studentenvereine Unitas). Offiziell besteht in Deutschland eine Trennung zwischen Staat und Kirche, außerdem leiden beide großen Kirchen seit einigen Jahrzehnten unter eklatantem Mitgliederschwund. Und doch sitzen ihre Vertreter*innen in Gremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in vielen Schulen ist der Religionsunterricht verpflichtend und religiöse Motive sind für viele Politiker*innen bis heute handlungsleitend.
Ein traditionell beliebter Studiengang bei Korporierten ist Jura. In der Folge dürften viele Alte Herren als Rechtsanwälte, Richter und Staatsanwälte teils wichtige Positionen in der Justiz besetzt haben. Der Jurist und Autor Joachim Wagner weist darauf hin, dass „bei rechten Richtern und Staatsanwälten die Gefahr besteht, dass sich ein legitimes ‚Vorverständnis‘ in eine illegitime ‚Voreingenommenheit‘ und dann sogar in eine rechtslastige Amtsführung“ verwandeln kann.
Nicht zuletzt dient das Lebensbundprinzip in Studierendenverbindungen der generationsübergreifenden Vernetzung sowie der finanziellen, ideellen und beruflichen Unterstützung der Aktivitas. Über die Vernetzung der Studenten (Füxe und Burschen) mit den berufstätigen Mitgliedern (Alte Herren) werden auch in der Wirtschaft Seilschaften gefördert, die den Korporierten oftmals den Weg in hohe Positionen ebnen. Die Vetternwirtschaft wird von den Studierendenverbindungen je nach Situation und Nutzen offen angepriesen, relativiert oder geleugnet. Die Mitgliedschaft in einer Verbindung ist mit Sicherheit kein Garant für eine steile Karriere, schaden tut sie in den meisten Fällen allerdings nicht.
Die gesellschaftliche Liberalisierung, ein gerafftes Curriculum an den Universitäten, rassistische, frauenfeindliche oder antisemitische Vorfälle, die Kritik daran und der daraus folgende schlechte Ruf von Studierendenverbindungen haben zur Folge, dass immer weniger junge Männer und Frauen in Korporationen eintreten. Trotz der steigenden Studierendenzahlen sinkt die Zahl der Verbindungsstudierenden stetig.
Über Generationen
Um die Zukunft ihrer Bünde zu sichern, immerhin ist man auf das Geld der Alten Herren oder Hohen Damen für den Unterhalt der Häuser und Aktiven, angewiesen, setzen Studierendenverbindungen auf unterschiedliche Strategien. Zum einen rekrutieren Verbindungen neue Mitglieder im Familienkreis. In einigen Verbindungen ist es durchaus üblich, dass mehrere Generationen in Korporationen aktiv sind. Auch Schülerverbindungen (pennale Verbindungen) können dazu dienen, neue Mitglieder zu rekrutieren. Über Schülerverbindungen werden potenzielle Mitglieder schon im frühen Alter an das Korporationswesen gebunden. Zwischen Schülerverbindungen und Studierendenverbindungen wird häufig ein enger Kontakt gepflegt. So wird es für viele Mitglieder einer Schülerverbindung auch zu einem naheliegenden Schritt, sich mit dem Beginn des Studiums einer befreundeten Verbindung anzuschließen. Beobachten lässt sich das z.B. bei der in München ansässigen pennalen Burschenschaft Saxiona-Czernowitz, die quasi das Rekrutierungsbecken für die extrem rechte Münchner Burschenschaft Danubia darstellt.
Darüber hinaus versuchen es Verbindungen auch „auf dem freien Markt“. Über Infostände auf dem Campus oder Flugblätter sollen potenzielle Mitglieder „gekeilt“, also angeworben werden. Darüber hinaus veranstalten Verbindungen mindestens einmal im Jahr aufwändige Partys und mehrere Vortragsveranstaltungen, über die man an Neumitglieder kommen möchte. Um Interesse beim potenziellen Nachwuchs zu wecken, präsentieren sich Studierendenverbindungen zudem gern als besten Einstieg in eine erfolgreiche Karriere. Einige Verbindungen wie bspw. die Landsmannschaft Hansea auf dem Wels bieten ihren Mitgliedern auch Stipendien für Auslandssemester an.
Zimmer gesucht?
Das wohl größte Kapital von Studierendenverbindungen sind günstige Zimmer. Gerade in einer teuren Stadt wie München locken Schäppchenpreise für eine Unterkunft in bester Lage Studierende an. Wenn man weiß, worauf man achten muss, findet man zu Semesterbeginn auf Portalen wie „WG gesucht“ zahllose entsprechende Angebote. Dort und auf den Webseiten der Verbindungen muss man jedoch häufig ins Kleingedruckte schauen, um herauszufinden, dass man in Männerbünden Mann sein und Mitglied werden muss, um vom bezahlbaren Wohnraum zu profitieren. Ist man erst einmal in ein Zimmer in einem Verbindungshaus gezogen, wird man in das Verbindungsleben integriert und von anderen nicht-korporierten Studierenden isoliert. Studierendenverbindungen bieten gerade zu Beginn eines Studiums in einer zum Teil völlig neuen Umgebung jungen Menschen Halt und Orientierung. Sie versuchen, ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln, die neuen Studenten sollen sich aufgehoben und sozial anerkannt fühlen.
Hinweis: Dieser Text wurde aus Kapiteln des Buches „Gehorchen und herrschen – Ideologie und Praxis studentischer Verbindungen“ entnommen und für die bessere Lesbarkeit leicht verändert.
Bilder:
Bild 1: Der Zahn der Zeit nagt – auch an Studierendenverbindungen. Dennoch können ihre Vertreter*innen bisweilen Einfluss auf gesellschaftspolitische Fragen nehmen. Foto: firm
Bild 2: Um Nachwuchs zu generieren wirbt die Landsmannschaft Hansea auf dem Wels unter anderem mit Stipendien. Foto: firm
Quellen:
Hinweis: Die genauen Quellenangaben finden Sie im Buch „Gehorchen und herrschen“.
Wippermann, Wolfgang: Männer Mythen und Mensuren. Geschichte der Corps und Burschenschaften, Hamburg 2019
Freund, Michael/Rüb, Richard: Drahtzieher Burschenschaften. Die Macht der Studentenverbindungen, Dokumentarfilm 2018
Speit, Andreas: Kaderschmiede der AfD. Rechtsextreme Studentenverbindungen, in: Jungle World, 8.8.2019, jungle.world/artikel/2019/32/arbeitsmarkt-fuer-burschenschafter (zuletzt abgerufen: 14.4.2023 um 10:00 Uhr)
Wagner, Joachim: Rechte Richter und Staatsanwälte. Eine Gefahr für den Rechtstaat?, Bonn 2022