Mit einer neuen Aktionsform namens „Tür-zu-Tür-Aktion“ tragen radikale Abtreibungsgegner*innen des Vereins „ProLife Europe“ aktuell ihren Protest gegen legale und somit sichere Schwangerschaftsabbrüche direkt an die Haustür von Münchner Bürger*innen. Die Fachinformationsstelle Rechtsextremismus München (firm) betrachtet dies als einen inakzeptablen Eingriff in die Privatsphäre und möchte Zivilgesellschaft und Politik dazu ermuntern, sich für reproduktive Rechte einzusetzen.
Der Verein „ProLife Europe“ wurde 2019 von bekannten Abtreibungsgegner*innen in Augsburg gegründet und verfügt mittlerweile über zahlreiche Untergruppen in mehreren europäischen Ländern. Nach eigenen Angaben möchte der Verein durch Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit vor allem jungen Menschen den „Wert menschlichen Lebens“ und „das Lebensrecht aller Menschen“ vermitteln und Menschen im Schwangerschaftskonflikt unterstützen. „ProLife Europe“ ist Teil der selbsternannten „Lebensschutz“-Bewegung, sie vertritt eine Ideologie, die auf der zentralen Annahme beruht, dass das „menschliche Leben von der Zeugung bis zum natürlichen Tod“ zu schützen sei und lehnt das Recht auf Schwangerschaftsabbruch strikt ab. Expert*innen beobachten, dass die Szene, die bereits in den 1920er Jahren als Gegenbewegung zu feministischen Kämpfen um Selbstbestimmung und Emanzipation entstand, angesichts einer stärker werdenden feministischen Bewegung, in die Offensive will.
Der Verein „ProLife Europe“ hat innerhalb der Anti-Choice-Szene, die sich gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche positioniert, vor allem zwei Funktionen: Er ist Klammer und Starthelfer für einzelne Aktivist*innen oder Kleinstgruppen, die sich gegen reproduktive Rechte stellen. Mit dem Label „ProLife Europe“, welches auf einheitlich gestalteten Materialien öffentlich verwendet wird, soll zudem der Eindruck erweckt werden, dass es sich bei der Anti-Choice-Bewegung um ein Massenphänomen handele.
Personelle Verstrickungen weist „ProLife Europe“ unter anderem mit der „Aktion Lebensrecht für Alle“ (1) auf, einem der ältesten Anti-Choice Vereine in Deutschland.
Beim ersten „Marsch fürs Leben“ in München lief Miriam N., Leiterin des „Field Teams“ bei „ProLife Europe“, am Frontbanner in der ersten Reihe. Bei der Demonstration im März 2021 handelte es sich um die größte Mobilisierung radikaler Abtreibungsgegner*innen in München seit Jahren. Organisiert wurde sie vom Verein „Stimme der Stillen“, in dessen Vorstand unter anderem Andreas Wagner tätig ist. Wagner sitzt für die CSU im Karlsfelder Gemeinderat und ist Mitglied der Münchner „ProLife Europe“-Gruppe. Auch zur rechtskonservativen Plattform CitizenGo bestehen enge Kontakte, dabei handelt es sich um eine Stiftung, die seit 2012 all denen eine Plattform bietet, die gegen Schwangerschaftsabbrüche, Gleichstellung und die Rechte von Schwulen, Lesben, Queers, trans und inter Personen (LGBTIQ) kämpfen. Zuletzt berichtete die taz ausführlich über CitizenGo, ihre Finanzierung sowie die Kampagne gegen den sogenannten Matić-Report , der sexuelle und reproduktive Gerechtigkeit sowie LGBTIQ*-inklusive Bildung und Sexualaufklärung an europäischen Schulen gewährleisten soll. Im Juni 2021 standen Aktivist*innen des Münchner Ablegers von „ProLife Europe“ gemeinsam mit Eduard Pröls vor der CSU-Landeszentrale im Münchner Norden. Pröls ist CitizenGo-Kampagnenleiter und koordiniert in Deutschland den Protest gegen den Matić-Report. Trotz massiver Proteste der europäischen Rechten wurde der Matić-Report am 23. Juni 2021 vom Europaparlament verabschiedet.
Nach einer Aufkleber-Aktion im Mai dieses Jahres, bei der Aktivist*innen von „ProLife Europe“ dutzende Aufkleber in der Münchner Innenstadt verteilten und der Protestaktion an der CSU-Zentrale, berichten sie aktuell auf ihrem Instagram-Account von einer „Tür-zu-Tür-Aktion“ in München. Aktionen dieser Art hatte es zuvor bereits in anderen Städten gegeben, um „mit Menschen über Schwangerschaftskonflikte und mögliche Hilfe zu sprechen“. Es ist davon auszugehen, dass die Aktivist*innen bei diesen Hausbesuchen rhetorische Mittel anwenden, welche sie in eigens für diese Situationen entwickelten Trainings erlernt haben. Darüber hinaus verteilen die Abtreibungsgegner*innen Material, welches von Betroffenen als verurteilend und belastend empfunden werden kann. Die firm betrachtet die „Tür-zu-Tür-Aktionen“ daher als Eingriff in die Privatsphäre der Betroffenen sowie eine nicht akzeptable Grenzüberschreitung und fordert Bürger*innen und Politik dazu auf, klar Position gegen die menschenfeindliche Ideologie der Anti-Choice-Aktivist*innen zu beziehen.
(1) Spiegel Artikel vom 3.11.2019: https://www.spiegel.de/panorama/radikale-abtreibungsgegner-wie-sie-sich-in-deutschland-etablieren-a-6a33329e-dce4-4e29-95eb-6f2e788fcec7
Bilder:
Bild 1: Instagram Kanal „ProLife München“
Bild 2: Instagram Kanal „ProLife München“
Über die Fachinformationsstelle Rechtsextremismus München
Die Fachinformationsstelle Rechtsextremismus München (firm) ist beim Feierwerk e. V. angesiedelt und seit 2009 Anlaufstelle für die Münchner Zivilgesellschaft, Multiplikator*innen der sozialen und politischen Bildungsarbeit, Fachnetzwerke, städtische Verwaltung und Kommunalpolitik. Wir informieren fortwährend über extrem rechte Entwicklungen in unserer Stadt, sensibilisieren für die Thematik und beraten zu möglichen Handlungsoptionen. www.feierwerk.de/firm
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