Rund 300 Pandemieleugner*innen sind es, die Anfang September Parolen rufend durch die Münchner Innenstadt marschieren. Die Münchner Polizei ist – trotz Hinweisen aus der Zivilgesellschaft und einschlägiger Telegram-Gruppen im Vorfeld – zunächst nicht anwesend und dann nicht in der Lage, die „Spontandemonstration“ der „Querdenker*innen“ zu unterbinden. Die Folge: der Demonstrationszug bahnt sich seinen Weg durch die stark frequentierte Innenstadt, einige Demonstrant*innen gelangen nach eigenen Angaben sogar bis vor das Gebäude des Bayerischen Rundfunks. Der Tag zeigt, wovor die Fachinformationsstelle Rechtsextremismus München (firm) seit Beginn der Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie warnt: Die „Corona-Rebell*innen“ vernetzen und radikalisieren sich weiter.
Zwar schrumpfte die Bewegung zwischenzeitlich in absoluten Zahlen, die Anzahl der Kundgebungen bleibt jedoch auf einem hohen Niveau. Mit diesem Beitrag will die firm einerseits einen aktuellen Lagebericht über die Szene in München liefern und andererseits aufzeigen, warum es mehr braucht als einen kritischen Blick auf diese Bewegung. Denn die auf den Versammlungen verbreiteten Inhalte zeugen von einer zunehmenden Radikalisierung der Akteur*innen, viele ihrer Positionen sind antidemokratisch.
Die firm dokumentierte in den vergangenen drei Monaten rund 50 Veranstaltungen der Szene im Münchner Stadtgebiet. Diese gestalten sich vielfältig, da auch die Szene in sich nicht homogen ist. Die Bedeutung der Stadt innerhalb der Pandemieleugner*innenszene zeigte sich einmal mehr am 16. August 2021: In einem Versuch, die eigene Agitation bundesweit neu zu starten und die Aktivitäten prominenter Akteur*innen zu bündeln, traf sich die Szene auf dem Odeonsplatz und suchte mit einer „Pressekonferenz“ die Öffentlichkeit.
In München sind es derzeit vor allem Demonstrationen und diverse Kundgebungen, bei denen die Szene gemeinsam auf die Straße geht. So findet jeden Mittwoch ein Marsch durch die Innenstadt statt, zuletzt nahmen daran rund 280 Personen teil. Freitags veranstaltet eine kleine Gruppe sogenannte „OpenMic-Kundgebungen“ und samstags organisiert die Aktivistin Ulrike P. („UlliOma“) ihre Kundgebungen an wechselnden Orten in der Stadt. Hinzu kommen Flashmobs, bei denen in Kleingruppen an wechselnden Orten Parolen gerufen werden, nur um dann kurz darauf wieder in der Menge abzutauchen und weitere, teils spontan geplante Versammlungen oder Meditationen. Seit Anfang September fahren Pandemieleugner*innen auch wieder im Rahmen von Auto-Korsos durch die Innenstadt.
Die von der Anmeldebehörde gemachten Auflagen werden von den Versammlungsteilnehmer*innen in der Regel nicht eingehalten. Problematisch ist aus Sicht der firm, dass die Pflicht zum Tragen einer Maske oder das Einhalten von Mindestabständen von den eingesetzten Polizeikräften in den meisten Fällen nicht durchgesetzt wird. Dies vermittelt den „Querdenker*innen“ den Eindruck, dass sie sich ohne Konsequenzen über Maßnahmen zum Infektionsschutz hinwegsetzen können. Diese „kleinen Siege“ münden schlussendlich in Selbstermächtigung und „wilde Demos“ wie der oben erwähnten „Spontandemonstration“ am 4. September 2021. In einem Statement auf Telegram bezeichnen sie die Aktion später als „schönen taktischen Erfolg“. Die Onlineplattform ist der Ort an dem sich die Szene trifft, bestärkt und neue Aktionen plant.
Das Ergebnis dieser Vernetzung sieht man im öffentlichen Raum: Kaum eine Szene ist auf den Straßen derart sichtbar wie die Pandemieleugner*innen. Mit Aufklebern, Flyern und Schmierereien, unter anderem auf Wahlplakaten, verteilen sie ihre Inhalte im ganzen Stadtgebiet.
Für die Verbreitung der Inhalte sorgen szeneinterne Streamer*innen, welche die Geschehnisse, der meist nur spärlich besuchten Kundgebungen und Demonstrationen, im Internet teilen und Interessierten die Teilnahme am heimischen Bildschirm ermöglichen. Somit nehmen an den Aktivitäten meist mehr Menschen teil, als es auf der Straße unmittelbar den Anschein hat.
Einige der zentralen Figuren, die auch die bundesweiten Proteste mittragen, stammen aus München. Darunter der ehemalige Polizeibeamte Karl Hilz oder „Die Basis“-Kandidatin Alexandra Motschmann. Hilz machte zuletzt Schlagzeilen, da er um Unterstützung der Reichsbürger-Szene warb (1). Als die Szene am 1. August 2021 in Berlin aufmarschierte, heizte Hilz die Menge auf: "Die Regierungen treten unsere Grundrechte mit Füßen und das hat kein Beamter, keine Polizei zuzulassen, denn das ist Hochverrat!" (2) Er ist eine der Personen, die im Zuge der unerlaubten Proteste vorläufig festgenommen wurden.
Motschmann ist seit Sommer 2020 bundesweit bei Protesten gegen die Infektionsschutzmaßnahmen aktiv, organisierte auch in München Versammlungen und fuhr im vergangenen Jahr mit einem „Frauenbus“ quer durch Deutschland, um Kundgebungen durchzuführen. Sie ist zudem Bundestagskandidatin der Partei „Die Basis“, welche im Juli 2020 aus den verschwörungsideologischen Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie entstand.
Getragen werden die Proteste durch Personen verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen und so marschieren Esoteriker*innen und Impfgegner*innen neben Reichsbürger*innen und extrem rechten Akteur*innen. Gemein ist vielen, dass sie mindestens mit Teilen ihres sozialen Umfelds gebrochen haben. Ehen, Familien und Freundeskreise sind aufgrund ihres Verschwörungsglaubens zerbrochen, eine Rückkehr scheint für viele nicht mehr möglich. Für einige ist die Szene zu einer Art Ersatz-Familie und damit zum integralen Bestandteil ihres sozialen Umfeldes geworden.
Waren es in der Vergangenheit vor allem Pandemieleugnung („nur eine Grippe“) und die lautstarke Kritik an den Maßnahmen („Grundrechte ausgesetzt“), kursieren derzeit vorwiegend Verschwörungserzählungen und Falschinformationen rund um das Thema Corona-Impfung. Die Impfstoffe seien nicht getestet und würden wahlweise in den nächsten zwei Wochen oder Jahren zu massenhaften Toten führen. Gesetzt wird stattdessen – trotz einer weltweiten Pandemie mit über vier Millionen Toten – entweder auf „natürliche Immunisierung“ oder wirkungslose homöopathische Heilmittel.
Auch die Feindbilder der Szene sind klar: Auf den Kundgebungen wird Stimmung gemacht gegen „die da oben“, die „Lügenpresse“ und die Polizei. Die Hetze führt immer wieder dazu, dass Politiker*innen bedroht, Journalist*innen und Polizeibeamt*innen verbal und körperlich angegriffen werden. Man will abrechnen mit Entscheidungsträger*innen aus Politik und Wissenschaft und all jenen, die die Maßnahmen unterstützen und mittragen. In den Augen der Szene haben sie das Land in eine „Diktatur“ verwandelt und verdienen dementsprechend drastische Strafen.
Die Szene möchte sich selbst dem politischen Koordinatensystem von rechts und links entziehen und doch ist eine aktive „Nicht-Abgrenzung“ gegenüber der extremen Rechten bei den Kundgebungen zu beobachten. Man sei „nicht links oder rechts, sondern normal“ heißt es am 4. September 2021 bei der Kundgebung am Isartor in München. Während „die Antifa“ offiziell von der Versammlung ausgeschlossen wird, darf Birgit W. (ehemals Pegida München) eine Rede halten. Das ist nicht unüblich, bei Versammlungen der Szene sind neben Neonazis und anderen Teilen der extremen Rechten auch christliche Fundamentalist*innen aktiv.
Auch Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus sind Ressentiments, die von der Szene online und auf der Straße offen vertreten werden. RIAS Bayern registrierte zwischen dem 1. Januar und dem 31. Oktober 2020 46 antisemitische Vorfälle auf einschlägigen Kundgebungen und Demonstrationen (3). Man geriert sich als Widerstandskämpfer*innen gegen eine imaginierte „Hygienediktatur“, steckt sich gelbe Sterne an, um zu zeigen, dass man ausgegrenzt werde und fabuliert von einer vermeintlichen „Homo-Lobby“.
So werden extrem rechte Inhalte in weite Teile der Bevölkerung getragen. Auf die entstandenen Netzwerke außerhalb ihrer politischen Einflusssphäre wird die extreme Rechte wohl auch in Zukunft zugreifen können. Einzelne Angehörige der Pandemieleugner*innenszene betrachten außerdem Gewalt zunehmend als legitimes Mittel, um die eigenen Ziele durchzusetzen. Anschläge auf Impfzentren sowie deren Mitarbeiter*innen, Forschungseinrichtungen und eine ICE-Strecke zeigen, dass den aggressiven Verschwörungserzählungen Taten folgen. Die Ziele solcher Anschläge werden in den widerspruchsfreien Echokammern der einschlägigen Telegram-Gruppen markiert. Hier fordern Mitglieder Nürnberger Prozesse und Kriegsgerichte oder gleich Guillotine und Galgen für die politischen Gegner*innen und erhalten dafür regen Zuspruch.
Den Pandemieleugner*innen ist es egal, ob sie Mitmenschen in Gefahr bringen. Was zählt sind ihre individuellen Freiheitsrechte, diese mit dem Gesundheitsschutz Anderer abzuwägen, wird vehement verweigert. Angesichts einer sehr wahrscheinlichen vierten Pandemiewelle und dem steigenden Druck sich impfen zu lassen, ist nicht zu erwarten, dass die Szene ihre Aktivitäten in naher Zukunft einstellen wird. Stattdessen ist bereits jetzt zu beobachten, dass sich Einzelne weiter radikalisieren und den Wunsch äußern, „das System“ als solches zu stürzen. Die Mobilisierungen nehmen wieder an Fahrt auf, die Teilnehmer*innenzahlen auf den Kundgebungen steigen.
Diesen antidemokratischen Tendenzen muss konsequent begegnet werden, z. B., indem gemachte Auflagen durchgesetzt werden und die Gefahr, die von der Szene ausgeht, von den Sicherheitsbehörden auch auf lokaler Ebene ernstgenommen wird. Angriffe auf Journalist*innen und Gegendemonstrant*innen müssen endlich konsequent unterbunden werden. Die Münchner Zivilgesellschaft sollte die Aktivitäten der Szene aufmerksam im Blick behalten und Verschwörungsideolog*innen unmissverständlich die rote Karte zeigen. Damit sich das antidemokratische und menschenverachtende Potential nicht bei der nächsten Krise wieder entfaltet, muss zudem auf breiter Front gegen Verschwörungserzählungen und damit verwandte Ressentiments gearbeitet werden. Dazu zählen auch präventive Maßnahmen wie zivilgesellschaftliche Beratungs- und Bildungsangebote, die Verschwörungsdenken, Fake News und rechter Hetze langfristig den Boden entziehen können.
(1) Endstation Rechts: https://www.endstation-rechts-bayern.de/2021/08/karl-hilz-wirbt-um-die-unterstuetzung-der-reichsbuerger-szene/
(2) Tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/reichsbuerger-querdenker-101.html
(3) RIAS Bayern: https://report antisemitism.de/documents/RIAS_Bayern_Monitoring_Verschwoerungsdenken_und_Antisemitismus_im_Kontext_von_Corona.pdf
Bildbeschreibungen:
Bild 1: Am 16. August 2021 trifft sich die Pandemieleugner*innen-Szene auf dem Odeonsplatz und sucht mit einer „Pressekonferenz“ die Öffentlichkeit.
Bild 2: Selbstermächtigung und „wilde Demos“. Pandemieleugner*innen marschieren am 4. September 2021 im Zuge einer „Spontandemonstration“ durch die Innenstadt Münchens. Aus Sicht der „Corona-Rebell*innen“ ein „schöner taktischer Erfolg“.
Bild 3: Ein Teilnehmer des Auto-Korsos am 9. September 2021 bringt Schilder mit der Aufschrift „Heil Söder“ und „Impfen macht frei“ an. Immer wieder kommt es bei Protesten gegen die Corona-Maßnahmen zur Relativierung des Nationalsozialismus und zur Verharmlosung der Shoah.
Über die Fachinformationsstelle Rechtsextremismus München
Die Fachinformationsstelle Rechtsextremismus München (firm) ist beim Feierwerk e. V. angesiedelt und seit 2009 Anlaufstelle für die Münchner Zivilgesellschaft, Multiplikator*innen der sozialen und politischen Bildungsarbeit, Fachnetzwerke, städtische Verwaltung und Kommunalpolitik. Wir informieren fortwährend über extrem rechte Entwicklungen in unserer Stadt, sensibilisieren für die Thematik und beraten zu möglichen Handlungsoptionen. www.feierwerk.de/firm